zwischen sehen und hören
sichtbarer, nicht hörbarer klang, imaginierter raum, flächen aus linien, bewegtes licht – der künstler julius stahl hat sich ein ganz eigenes repertoire und eine präzise technische umsetzung erarbeitet, um ein einzigartiges sinneserlebnis im ausstellungsraum zu erschaffen. die besucher:innen werden eingeladen, dort zu sehen, wo es etwas zu hören gibt und zu hören, wo es eigentlich nur zu sehen gilt. das verhältnis zwischen ohr und auge muss jeder immer wieder selbst beim durchwandern abgleichen. dabei geschehen sehr überraschende dinge, wenn plötzlich flache objekte durch einen einzigen ton eine andere räumliche präsenz entfalten oder eine lichtaufzeichnung auf papier zu vibrieren scheint.
die ausstellung im kunstverein grafschaft bentheim ist als eine gesamtkomposition aufgebaut. jeder raum ist einer seiner zentralen werkgruppen gewidmet, die stahl stetig, über jahre fortentwickelt und vor allem für jeden ausstellungsraum neu anpasst. jede arbeit wird von ihm in den raum gesetzt und steht durch raffinierte blickachsen mit den anderen werken in bezug. diese sichtachsen tragen auch wesentlich dazu bei, dass sich ein gespinst aus bezügen und klängen ergibt. es sind linien und flächen im raum, keine farbigen akzente, alles in schwarz und weiß.
obwohl in dem hinteren raum gelegen, zieht die arbeit “cluster” schon vom eingang kommend, die aufmerksamkeit auf sich. an dünnen drähten befestigt schweben sieben schwarze rechtecke von unterschiedlicher größe und in unterschiedlicher höhe. alles scheint unbewegt und starr. erst bei voller konzentration erkennt man einen offenbar anschwellenden klang. die sinne nehmen langsam die töne wahr, die die einzelnen objekte umgeben. durch räumliche annäherung, beim unmittelbaren lauschen entdeckt der besucher die schwingungen in den drähten, die zu den einzelnen objekten führen. die elektronisch erzeugten schwingungen werden über die drähte auf die objekte übertragen und bei ihnen angekommen zum hörbaren ton. es entsteht beim “cluster” keine abgestimmte melodie, aber eine vielzahl von einzeltönen, die in ihrer reinheit und kraft an tiefe orgeltöne erinnern.
cluster bedeutet im englischen „traube“, „bündel“, „schwarm“. bei julius stahl beschreibt der titel “cluster” einerseits eine offensichtliche verdichtung gleichförmiger elemente im raum zu einer einheit und ist dadurch dicht am ursprung des wortes. andererseits verweist der künstler damit auf ein namensgleiches, musikalisches phänomen, bei dem ein klanggebilde durch die überlagerung von kleineren intervallen entsteht und ebenfalls als cluster bezeichnet wird. cluster eröffnet darüber hinaus eine technische assoziation, die durch stahls perfekte präsentation ebenfalls eingelöst wird. diese mehrfachen bezüge sind charakteristisch für stahl, der von schwingungen ausgehend, installationen, bilder und räume für den klang schafft.
ursprünglich komponierte stahl elektro-akustische musik und stücke für klassische instrumente und live-elektronik. ausgangspunkt ist für ihn seither bei zahlreichen arbeiten der perfekte ton, der sinuston, wie er in der natur nicht vorkommt. der sinuston ist die mathematische perfektion, die sich durch eine unendliche und gleichmäßige sinus- und kosinusfunktion darstellen lässt. mit keinem musikinstrument lässt sich diese reinform erreichen, deshalb verwendet stahl elektronische klangerzeuger. in der werkreihe “cluster” bleibt stahl in einem für das menschliche gehör erfahrbaren frequenzbereich. bei anderen werkreihen bedient er sich des infraschalls, einem frequenzbereich, der für den menschen unhörbar ist. die schallwelle generiert jedoch trotzdem eine sichtbare bewegung in seinen werken: töne, die nicht hörbar aber erlebbar sind!
in unmittelbarer nähe zum ”cluster” befindet sich eine dreiteilige arbeit aus der serie “flaechen”. auch hier ist das prinzip physikalisch schnell erklärt und ähnelt dem vorangegangenen “cluster”. doch was räumlich daraus entsteht, ist von überraschender wirkung. zu sehen ist ein über zwei räume angelegtes konstrukt aus feinen drahtstangen: im gleichen abstand setzt er drähte, die von der decke bis zum boden reichen. auch hier werden sinustöne auf die objekte übertragen. hier werden die töne jedoch moduliert, so geraten über die zeit unterschiedliche bereiche in resonanz. die klänge sind jedoch nahezu unhörbar. dieses mal begibt sich der künstler an die feine grenze des menschlichen gehörs, die letztlich immer auch eine individuelle ist. je nach standort, je nach abstand nimmt man diese zart schwingende komposition als transparenten schleier wahr. erstaunliche überschneidungen aus den raumkanten, den durchblicken, den ecken und öffnungen verändern die wahrnehmung. von der seite betrachtet erscheint die installation wie eine vertikale linie im raum. aus den drähten ist sowohl eine zarte fläche wie auch eine schwarze linie geworden. in der positionierung geht julius stahl sehr präzise vor und überlegt sich genau den zusammenhang zwischen den raumproportionen als auch den blickachsen. der womöglich nur unbewusst gefühlte ton, der jedoch sichtbar in der schwingung ist, trägt zum räumlichen erleben bei. die “fläche” entwickelt eine körperlichkeit und eine sich langsam verändernde räumliche präsenz.
die ambivalente linie im raum – um was handelt es sich hier? objekt, klang, körper, linie? – erinnert an künstler wie antony mccall, der die medien film, licht und raum zu einer raumzeichnung verbindet und damit vergleichbar wie stahl unterschiedliche wahrnehmungsbereiche anspricht. mccalls lichtlinien entstehen durch projektionen in dunklen räumen. dank eines künstlichen nebels und der bewegten projektion werden die linien scheinbar körperlich und der betrachter sieht stereometrische formen, durch die er hindurchschreiten kann. illusion, zauberei? letztlich ein ganz einfacher, experimenteller aufbau, der erstaunliche wirkung erreicht. der vergleich zwischen den beiden künstlern liegt tatsächlich nahe, besonders da beide die einfachheit und die mathematische klarheit suchen. es geht ihnen nicht um ein geschicktes verwirrspiel der besucher, es interessiert sie vielmehr mit naturwissenschaftlichem blick die grenzen von sinnesphänomenen auszuloten. beide interessieren sich für die unterschiedlichen qualitäten von immaterialität, die in ihren kunstwerken eine spezifische physikalische präsenz erzeugen kann.
die zeichnung mit licht findet sich auch in stahls werk. er hat dafür ein einzigartiges verfahren, das auf dem prinzip des luminogramms beruht, erdacht. durch einen selbstentwickelten apparat fällt gebündeltes licht durch “klingende” objekte. die objekte sind wie bei den installationen auch durch den sinuston in schwingung gebracht worden. das durchgeworfene licht bildet diese schwingungen auf dem silbergelatinepapier ab. es ist wie ein rauschen, eine form mit fehlender kontur, die dadurch eine räumliche qualität bekommt. passend zu dem ausstellungsparcours zeigt stahl luminogramme mit schwarzen linien. das hochrechteckige papierformat greift wiederum die formen aus dem “cluster” auf. jede arbeit in der ausstellung steht in bezug und in optischem dialog zu den anderen. es sind diese feinen abstimmungen, mit denen stahl nicht nur eine einzelne arbeit komponiert, sondern den ganzen raum orchestriert.
das luminogramm ist wie das fotogramm ein vorläufer der fotografie. als künstlerisches medium erfreute sich diese technik besonders in den 1920er jahren im umfeld des bauhauses großer beliebtheit. beim luminogramm entsteht das abbild auf lichtempfindlichem fotopapier jedoch allein durch variationen der lichtintensität. das licht ist dadurch zugleich mittel und gegenstand des „lichtbildes“. bei stahls technik bildet es jedoch nicht nur das licht, sondern auch eine räumlichkeit ab, die erst durch klang entsteht.
dem künstler gelingt es, dass die betrachter:in einer intuition folgend töne im raum als plastische formen und weniger als flüchtige klänge erlebt. auch ohne das genaue physikalische wissen um die gestalt der töne erfahren die ausstellungsbesucher:innen eine wahrnehmungserweiterung und bekommen den eindruck, dass auch das unsichtbare teil der werke ist. der zwischenraum, der abstand, die leerstelle sind wichtige elemente im werk von julius stahl. sie schaffen raum für den klang. aber auch für die wahrnehmung – von sinnesräumen, zwischen sehen und hören.
text: "zwischen sehen und hören" von simone schimpf aus dem katalog "julius stahl" der anlässlich der gleichnamigen einzelausstellung im kunstverein grafschaft bentheim, neuenhaus 2019 herausgegeben wurde.
auch wenn hier von einem licht-objekt die rede ist, besteht es eigentlich aus zwei ganz ungreifbaren räumlichkeiten. einer verbindung aus lichtraum und tonraum.
ein lichtstrahl wird in die form eines quadrats gebracht. wir sehen es hier auf einer wand, mit scharfen kanten, klar definiert. doch das ist nicht von langer dauer, denn bei längerer betrachtung werden die konturen weicher.
das quadrat scheint sich in den raum zu erweitern und ein räumlicher körper entsteht. wie kann das sein? angeblich sind auch töne im spiel, zu hören ist dennoch nichts?
um das zu erreichen hat der künstler ein eigenes instrument entwickelt. einen licht-/resonanzapparat. aus diesem apparat fällt der lichtstrahl auf eine wand und zeigt das eigentliche lichtobjekt. der lichtstrahl wird langsam durch töne in schwingung versetzt. aus fläche wird körper. der klang verbleibt im inneren des apparats.
wir sehen einen raum, der sich in der zeit verändert. licht- und tonraum sind miteinander verbunden. möglich wird das durch reduktion von klang auf sein wesentliches element, nämlich bewegung. bewegung, die konkrete räume formt.
licht und ton transportieren hier nichts im sinne einer projektion. sie selbst sind inhalt und medium. die denkbar einfache reduktion auf diese beiden elemente zeigt ein werk an den grenzbereichen von sehen und hören.