hoffmann

in focus: französische konstruktive

marcelle cahn, jean gorin, aurélie nemours, michel seuphor, francois thépot

das künstler*innenportfolio "französische konstruktive" ist ein frühes beispiel für die arbeit der edition hoffmann und illustriert deren anliegen, ein international verstreutes milieu konstruktivistischer künstler*innen der nachkriegsjahre zusammenzubringen und deren arbeit zu dokumentieren. hier jean gorin – stark von piet mondrian beeinflusst – zusammen mit französischen künstler*innen einer jüngeren generation, die durch ihr gemeinsames verständnis von und ihre identifizierung mit neoplastizismus verbunden sind: marcelle cahn, aurélie nemours, michel seuphor und françois thépot. der versuch der edition hoffmann, den zugang zu zeitgenössischer kunst, zu deren historischen kontexten und nicht zuletzt zur möglichkeit des sammlens von kunst zu demokratisieren, manifestiert sich anschaulich im format dieser mappe. neben signierten und nummerierten großformatigen drucken von motiven, die zumeist 1973 für die mappe entstanden sind, hat jede*r der beteiligten künstler*innen kurze statements zu den eigenen arbeitsprozessen verfasst. diese sind ebenfalls als teil der mappe reproduziert worden und nun auch online zugänglich.

portfolio cassette: "french constructivists" (1973), silkscreen on cardboard, 63 x 63 cm

kassette: "französische konstruktive" (1973), siebdruck auf karton, 63 × 63 cm

der elementaristische konstruktivismus zeigt antistatische kompositionen auf und drückt räumliche dynamik aus, die sich in schrägen richtungen fortbewegt und damit eine neue bildliche und plastische dimension erschließt.

jean gorin

es ist oft gesagt worden, daß sich frankreich schon von natur aus einer geometrischen kunst widersetzt. dabei wurde aber ein wenig schnell die rolle vergessen, die die kubistischen maler bei der entwicklung dieses jahrhunderts in richtung auf die geometrie gespielt haben, sowie der entscheidende einfluß, den sie auf die russen ausgeübt haben. und ist es nicht auch paris, wo mondrian aus den kubistischen vorstellungen die radikalsten konsequenzen zog und zwischen 1928 und 1932 seine klassischsten neo-plastischen bilder malte?

es trifft zwar auch zu, daß lange jahre hindurch jean gorin sein einziger französischer schüler war. der eine übrigens sowie der andere in der öffentlichkeit völlig unbekannt. diejenigen, die in diesem zeitraum zwischen den beiden kriegen gelebt haben, wissen, daß der grund für diese leere in der surrealistischen reaktion und in dem großen, damit einhergehenden werbelärm zu suchen ist.

seit einigen jahren haben sich die dinge stark entwickelt, in frankreich wie anderswo auch, das land eines descartes oder der encyclopedisten konnte gegenüber dem universalismus der geometrischen abstraktion nicht lange unempfindlich bleiben. die jungen, die sich darin üben, sind heute in frankreich so zahlreich wie in den anderen europäischen ländern.

die hier vorliegende mappe beschränkt sich auf fünf namen und zeigt damit diejenigen, die sich schon seit langem auf diesem wege befinden, und die jetzt noch leben und in ihrer produktion nicht nachlassen, zwei hervorragende frauen, marcelle cahn und aurélie nemours. die eine hat sich ganz der soliden maßvollen architektur verschrieben; die andere, leicht und heiter, ist vom wesentlichen nicht minder fasziniert. wie auch gorin, der endlich den weltweiten ruf genießt, den er aufgrund seiner arbeit und seiner redlichkeit mehr als verdient hat, war marcelle cahn an der ausstellung „cercle et carré" (kreis und quadrat) 1930 beteiligt.

zweifelsohne ist thépot der qualifizierteste representant der folgenden generation. ich kenne wenige beispiele einer so anspruchsvollen haltung wie die seine. seine bilder sind schwarze diamanten die er unter dem aufprall einer farbe, die immer die einzige ist, vibrieren läßt.

schließlich wurde gewünscht, daß ich meine waagrechte linie, meine fließende spur, meine unterschrift, hinzufüge.

michel seuphor, paris, februar 1973

introductory text by michel seuphor on one of the title sheets in french and german languages

einleitender text von michel seuphor auf einem der titelblätter in französischer und deutscher sprache

französische konstruktive
französische konstruktive

für mein schaffen sind es die unbeachtetsten geringsten objekte, die wesentlich sind. diese nichts des täglichen lebens sind für mich träger, offenbarungen, plastischen seins. ich liebe das elementare, nicht das luxuriöse.

diese wahrnehmung stiller existenzen ist grundlegend. ich habe viel in einsamkeit gelebt, mich mit dieser identifiziert. daher ein gleichnis.

1960 gliederte ich die kugel meiner arbeit ein. auf flächen zuerst, in den letzten jahren auch meinen raumstrukturen (spatiaux). die kugel identifiziert für mich vierdimensionales raumempfinden.

marcelle cahn

marcelle cahn, "untitled" (1973), silkscreen on paper, 60 x 60 cm

marcelle cahn, "untitled" (1973), original-serigraphie auf bütten, 60 × 60 cm

französische konstruktive
französische konstruktive

in richtung auf einen neuen ausdruck im konstruktivismus

wie mondrian sagte, enthält die orthogonale im neoplastizismus eine version der dynamischen werte in einem konstruktiven system, das auf absolutes gleichgewicht gerichtet ist.

während im gegensatz dazu der elementaristische konstruktivismus antistatische kompositionen aufzeigt und räumliche dynamik ausdrückt, die sich in schrägen richtungen fortbewegt und damit eine neue bildliche und plastische dimension erschließt.

was mich persönlich betrifft, so habe ich seit 1936 der elementaristischen technik angehört und sie erprobt und zwar zu meiner zufriedenheit und ohne dabei den neoplastizismus aufzugeben, denn innerlich brauche ich zwei rythmische systeme um mich auszudrücken. ich habe mir diese freiheit immer vorbehalten, nämlich entsprechend dem gewählten thema und der ästhetischen inspiration meines psychischen zustandes die einer oder andere technik zu verwenden, wie ich ja auch den kreis verwende als kompositionsgrundlage und als ausdruck der einheit von unendlich kleinen zum unendlich großen, und auch dies schon seit 1936.

die antistatische instabilität im plastischen gleichgewicht der beziehungen kommt lebendiger in einer schrägen ausrichtung der komposition zum ausdruck, und das mache ich mit unendlich vielen neigungswinkeln. diese technischen feinheiten entsprechen natürlich den verschiedenen künstlerischen temperamenten.

jean gorin

jean gorin, "composition no. 110" (1973), silkscreen on paper, 60 x 60 cm

jean gorin, "composition no. 110" (1973), original-serigraphie auf bütten, 60 × 60 cm

französische konstruktive
französische konstruktive

parallele
das werk wird geschenkt, doch hat es keinen körper
einer ganz und gar unbestimmten dauer wird es noch bedürfen
geheimen, achtsamen, wesensgleichen werdens
die form ist ein köder
die form ist die erscheinung, welche die wahrheit annimmt
das geheimnis des raumes ist das kreuz
der raum löst sich auf im punkte
der raum liegt innerhalb des virtuellen punktes
der herzpunkt des kreuzes, den wir als „quadrat" bezeichnen,
ist das zeichen absoluten widerspruchs
spannung, geboren aus der vierteilung der gegensätze
der punkt ist unser einziger impuls, unsere selbstfindung
der punkt ist urgrund und handlung - er bringt den rythmus hervor
dieses verhältnis zwischen größen
wesentliche geometrie
die farbe - fascination des zusammenklangs
um das unzugängliche weiß zu erreichen
an die stelle der wissenschaft - den sinn zu setzen
muß man bis zur gefahr fortschreiten

aurelie nemours

aurélie nemours, "translation" (1968), silkscreen on paper, 60 x 60 cm

aurélie nemours, "translation" (1968), original-serigraphie auf bütten, 60 × 60 cm

aurélie nemours, "commotion du point" (1971), silkscreen on paper, 60 x 60 cm

aurélie nemours, "commotion du point" (1971), original-serigraphie auf bütten, 60 × 60 cm

französische konstruktive
französische konstruktive

"das system und die regel"

das system ist für den professionellen philosophen das, was die regel für den verständigen menschen ist. das system tendiert natürlich zur hegemonie, zu einer art von totalitarismus oder intellektuellem imperialismus. es ist eine form. das system führt keinen dialog, es will monolithisch und unwiderruflich sein. wer sich ihm stellt, wird von ihm besiegt und gnadenlos zurechtgestutzt.

die regel hingegen ist keine maschine. man bedient sie. man wird nicht von ihr gemacht: sie wird zu uns gemacht, zu unserem gebrauch. sie beansprucht nicht, in sich selbst vollständig zu sein, wie es das system tut; sie ist nur ein detail unserer lebensweise, aber ein detail, das uns begleitet und uns führt. es gibt immer eine möglichkeit, die regel ein wenig zu lockern, von ihr abzuweichen, wie von einem idealen weg, ohne sie jedoch aus den augen zu verlieren. man kann sagen: "vielleicht...", während das system ein klares und unmissverständliches "ja" oder "nein" vorschreibt.

der gerade weg, den ich vor langer zeit eingeschlagen habe und dem ich treu geblieben bin, ist für mich eine lebensregel, eine art freiwillige armut. es handelt sich nicht um einen prozess, wie manche glauben mögen, denn sie hat sich mir gewissermaßen organisch angeboten, am ende einer langen entwicklung meiner linearen spiele. es ist nicht einmal eine methode im eigentlichen sinne, sondern vielmehr die reduzierung der plastischen mittel auf ihren einfachsten ausdruck, auf das, was mir eines tages als ihre vollständigste entblößung und natürlichste einheit erschien: die horizontale gerade linie.

wenn ich in meiner regie arbeite, dann nicht aus prinzip oder blinder unterwürfigkeit, sondern aus freude.

wenn ich sie in den letzten fünfzehn jahren nie vernachlässigt habe, dann liegt das wohl daran, dass sich das vergnügen immer wieder erneuert. ich weiß jetzt, dass sie unendlich variieren kann, dass das vergnügen an meiner regel unerschöpflich ist.

meine regel ist übrigens nicht sehr streng, sie will überhaupt nicht starr sein.

ich wende sie nie absolut an. die linie ist natürlich gerade, immer waagerecht, aber sie ist an jedem punkt der strecke spürbar. das liegt daran, dass ich mir die linie nur freihändig und ohne jegliche materielle regel vorstellen kann. dennoch möchte ich, dass die linie gerade ist, so gerade wie möglich: die saite klingt nur, wenn sie gespannt ist.

es ist die regel, die mich in der feder selbst führt; sie hat sich in meine hand integriert, sie ist in meinen fingern, sie ist in dem blut, das durch meine finger fließt und aus dem ganz natürlich der lange strahl schwarzer tinte fließt.

wie bei einem spaziergang halte ich an, wo ich will, ich lasse den himmel über mir schweben und mich durchdringen, ich lasse die zeit für sich fließen, ohne sie zu füllen und ich sehe, dass diese zeit - die lücke - lebendiger ist als die zeit, die wir mit aktivität vollstopfen.

meine linie ist nie allein, sie verbindet sich mit anderen, parallelen, ähnlichen linien.

es ist eine gesellschaft von linien und meine bevölkerung variiert stark in der dichte. manchmal gibt es partys, wenn ich die farbe mit hilfe von geklebten papieren einführe. aber das licht wird immer gefeiert. es wird gefeiert, weil es präsent, allgegenwärtig und leicht ist. es lebt zwischen den zeilen. sie ist es, die singt. und die linien begleiten es, unterstützen es mit ihrer modulation. sie mäßigen die flamme. wenn man genau hinsieht, dienen die linien nur dazu, die ausdehnung des lichts zu begrenzen, aber dadurch bewegen sie es innerlich, sie sensibilisieren den schrei.

michel seuphor

michel seuphor, "+ -" (1970), silkscreen on paper, 60 x 60 cm

michel seuphor, "+ -" (1970), original-serigraphie auf bütten, 60 × 60 cm

französische konstruktive
französische konstruktive

die schrift ist die sprache der gelehrten und schriftsteller und ein universales kommunikationsmittel, diese sprache benutzt vereinbarte zeichen mit denen sie auf verschiedene und subtile arten alle gefühle und abstraktionen der menschlichen seele ausdrückt.

farbe und formen sind die sprache des künstlers, auch diese sprache setzt zeichen; diese zeichen sind das mittel, das dazu dient, den beschauer zu informieren und in seinem geist gewisse quantitäten und qualitäten an emotionen und suggestionen zu projezieren... aber wovon? und hier liegt das mißverständnis, der stein des anstoßes, denn, wenn auch die schrift ein universales kommunikationsmittel ist, mit allerseits bekannten sym-bolen, so verhält es sich doch im reiche der kunst anders. es besitzt nämlich jeder künstler seinen persönlichen code und sein eigenes zeichenalphabet, und je identifizierbarer diese zeichen in form und farbe sind, um so mehr sind wir geneigt zu glauben, daß derjenige, der eine solche sprache besitzt, ein künstler mit einer wenig gewöhnlichen persönlichkeit ist.

worin besteht dieser code? was sind diese zeichen? auf den ersten blick hat es den anschein, als sei es die wiederholung gewisser konstanten, eine art „eintönigkeit im unveränderlichen".

wer würde je die konstanten eines rembrandt mit denen eines rubens verwechseln, die invariablen eines villon mit denen eines picasso? der kunst-kritiker ist mit diesen varianten im ausdruck vertraut; das trifft jedoch nicht für die öffentlichkeit zu, die wenig informiert ist und den ernsthaften wunsch hat, eines kommunikationsmittels teilhaftig zu werden, das sie übersteigt. schreiben ist nicht meine sprache und ich stelle in dieser mappe ein beispiel dessen vor, was meine für mich gebräuchliche ausdrucksweise ist, mit einigen meiner konstanten in formalen strukturen und farben. auf dem gebiet der form bestehen diese konstanten aus polygonalen, orthogonalen oder kombinierten strukturen, auf dem gebiet der farbe sind sie bestimmt durch die invariablen in der modulation des schwarz, blau, blau-rot und weiß-blau-rot was suchen diese zeichen auszudrücken? lediglich ein versuch, mich selbst als ganzen menschen zu äußern und zu materialisieren; denn was bleibt denn schließlich, wenn die ismen" aller schattierungen und die raffiniertesten theorien bis zum ekel durchgespielt und wieder durchgespielt worden sind? es bleibt der mensch mit seiner besonderen botschaft und sein medium oder mittel seine persönliche technik diese zu vermitteln: das lesen in diesem medium ist der schlüssel zum verständnis der mitteilung.

françois thépot

françois thépot, "nocturne rouge" (1973), silkscreen on paper, 60 x 60 cm

françois thépot, "nocturne rouge" (1973), original-serigraphie auf bütten, 60 × 60 cm

werke

le roi

aurélie nemours

le roi

1960/1972

original-serigraphie auf papier

42 × 59 cm

edition hoffmann

auflage von 100

1200 € inkl. MwSt.

albiréo

albiréo

aurélie nemours

1987

original-serigraphie auf bütten

52 × 52 cm

edition hoffmann

auflage von 75 + 20 e.d’a.

11-teiliges mappenwerk

6000 € inkl. MwSt.

triptychon

triptychon

michel seuphor

1981

original-serigraphie auf bütten

56 × 76 cm

edition hoffmann

auflage von 90 + 10 e.d’a.

3-teiliges mappenwerk

2400 € inkl. MwSt.

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